Kärntner Krimipreis 2006 - Thema Tatort Internet

1. Platz - Franziska Kelly
Blond Angel

Ich glaube nicht an Zufälle. Nicht mehr. Das Leben ist eine Fuge, komponiert aus Milliarden von kleinen oder größeren Fügungen, pflegte einer meiner Kollegen augenzwinkernd zu sagen. Über dieses Wortspiel lache ich auch nicht mehr. Ich hatte binnen weniger Wochen drei Fügungen erlebt, und mein Leben war dadurch für eine Weile wirklich aus den Fugen geraten.

Das erste Mal sah ich sie, als sie etwa sechs Jahre alt war. Sie war die „Hauptdarstellerin“ eines alten dänischen Kinderpornos. Damals noch auf Schmalfilm gedreht. Rupert Maschke, einer der wenigen erfahrenen Cybercops, bildete uns fort. Das spezielle Fortbildungsthema hieß: Organisierte Kriminalität gegen Kinder im Internet. Ich verstand zunächst nicht, warum er uns den alten Schmalfilm in Schwarz-Weiß und ohne Ton zeigte. Wollte er uns schonen?
Er wollte nicht. Plötzlich sahen wir die Kleine nämlich auf einem Computerbildschirm. In Farbe. Mit Ton. Nicht nur mir wurde übel. Die Polizeibeamten um mich herum hüstelten oder räusperten sich vernehmlich. Doch Maschke sprach ungerührt weiter: „Das hier“, sagte er, „ist ein technisches Update, eine Art digitale Restaurierung. Eine weitere Möglichkeit, um Kinderpornos zu erzeugen. Man nimmt einen alten Film und bringt alles auf den neuesten technischen Stand. Nicht nur Farbe statt Schwarz-Weiß. Sehen Sie hier ... man hat Kratzer entfernt, weitere Täter reingeschnitten, alte Passagen gelöscht, manche beschleunigt und so weiter. Na, was sagt die Kriminalpsychologin dazu?“ Er sah mich an.
Ich riss mich zusammen. „Nun“, begann ich, „das bestätigt meine These. Die heutige Informationstechnologie ermöglicht eine raum-zeitliche Verlängerung von Gewalt. Das Mädchen war zum Zeitpunkt der Misshandlungen sechs Jahre alt. Der Schmalfilm ist wie alt?“
„Zwanzig Jahre“, antwortete Maschke. „Wir haben ihn vor zwanzig Jahren sichergestellt. Letztes Jahr fanden wir durch Zufall die ersten Trailer der neuen Version im Netz. Als Anreiz, um die potenzielle Kundschaft auf das ganze Video neugierig zu machen. Die wissen ja nicht, dass sie einen technisch aufbereiteten Schmalfilm kaufen.“
„Das dürfte solchen Typen auch scheißegal sein!“
Maschke nickte: „Mit Sicherheit. Aber erzählen Sie noch was zu der raum-zeitlichen Verlängerung von Gewalt. Was meinen Sie damit?“
„Ich meine die Opfersicht. Kinder, die während dieser Folterakte gefilmt werden, wissen, dass sie gefilmt oder fotografiert werden. Sie bekommen es ja mit und speichern es ab. In meiner Praxis reagieren alle Opfer dieser Art von Gewalt panisch auf das Klicken von Kameras und auf Blitzlicht. Eine Klientin übergibt sich schon beim bloßen Anblick einer Kamera.“
Maschke nickte erneut. Er war ein alter Hase. Über zwei Jahrzehnte Verbrechensgeschichte im Bereich der Herstellung und Verbreitung von Kinderpornos hatte er miterlebt. Eine schändliche Geschichte für die Spezies Mensch. Vielleicht die schändlichste überhaupt.
„Diese Panikreaktionen sind aber nicht alles, was ich mit meiner These meine“, fuhr ich fort. „Dieser kleine blonde Engel da ist nun Mitte zwanzig. Wie wird sich die junge Frau fühlen, wenn sie von den weltweit kursierenden Bildern und Filmpassagen ihrer eigenen Vergewaltigung erfährt?“
„Die Wahrscheinlichkeit, dass sie von den neuen Bildern erfährt – oder sie gar sieht, ist gleich null“, gab Maschke zu bedenken.
[...]

Das Ende der Geschichte - ein höchst unerwartetes! - können Sie in "Tatort Internet" nachlesen.

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